- BESUCHER AN BORD -
ODER DAS WUNDER VON „KÖLN"
Wie in allen angelaufenen Häfen wurden auch in Buenos Aires die Schiffe an einem Tage der
Bevölkerung zur Besichtigung freigegeben. Diese der Marinebegeisterung weiter Kreise zweifellos
entgegenkommende Maßnahme wird von allen IO's mit tiefer Skepsis betrachtet. Nicht so sehr wegen des
Verschwindens kompletter Sätze Wehrmaterials, in einschlägigem Sprachgebrauch „Souvenir" genannt, als
vielmehr wegen des reichlichen Anfalls von Konsumgüterresten und der chaotischen Unordnung, die so eine
Menschenlawine hervorzubringen pflegt. Nichts ist vor ihnen sicher, kein Ventil, kein Verschluss, kein Handrad,
kein Schalter, alles wird zumindest „ausprobiert".
Erstes Gebot:
Schiff vor allem schwimmfähig und einigermaßen
fahrklar halten. Das bedeutet: Kein Zutritt zu Räumen unter der Wasserlinie, Kutter so blockieren, dass er unter
keinen Umständen auszusetzen geht, beide Anker seefest zurren und mit Vorhängeschloss versehen.
Zweites Gebot:
Den Menschenstrom kanalisieren. Das bedeutet: Besichtigungsweg abstecken und markieren, Posten an allen
kritischen Punkten aufstellen - nach meiner Erfahrung besteht jeder Besichtigungsweg nur aus kritischen Punkten -
und alle Räume, die am Besichtigungsweg liegen, wie einen Tresor sichern.
Drittes Gebot:
Menschenstrom beschleunigen, um einen größeren Durchsatz zu erzielen. Das bedeutet: An allen Ecken und besonders
vor den gefürchteten Sackgassen Antreiber postieren, die
mit anfeuernden Rufen die Massen in Bewegung halten.
Mit solcherlei guten Vorsätzen gewappnet ging ich am 17. 5. 1970, eine Stunde
vor Besichtigungsbeginn, an
Oberdeck, um die Organisation zu überprüfen. Die Pier war schwarz von Menschen. Ach ja, heute ist der Tag der
Marine und sie werden wohl abgeteilt worden sein, um zu frohlocken, wenn einer der hohen Würdenträger vorbeikommt,
so dachte ich. Indessen war dies ein Irrtum, ich hätte gleich die unternehmungslustigen Blicke bemerken müssen, die diese
1000 Menschen auf unser Schiff warfen. Erst kurz vor Beginn der Besichtigung wurde ich gewahr, dass diese inzwischen
auf ca. 5000 Menschen angewachsene Menge von der Vorsehung für uns ausersehen war. Wir mussten es hinnehmen und
zu tragen versuchen. Die Zusammensetzung dieser schier unabsehbaren Menschenmenge - denn noch immer entluden
ganze Bus-Karawanen ihren Inhalt - war aber einer Betrachtung wert. Da gab es zunächst Urahnen, Großeltern, Eltern,
Kinder und Enkel jeden Alters, darunter viele Mütter mit Säuglingen, die ihre Neugeborenen wie so eine Art Rangabzeichen
vor sich hertrugen. Diese Gruppe stellte den Löwenanteil. Dann kamen die Abgesandten der vielen deutschen Vereine,
- die Vereinsmitglieder waren
vollständig erschienen - sie betrachteten das Schiff schon jetzt als ihr
alleiniges Eigentum.
Ein Nonnen-Konvent hatte eine kriegsstarke Abordnung entsandt, und auch ein Heim
für Gehbehinderte musste just
am heutigen Tage abgebrannt sein, denn alle Insassen waren erschienen und baten um Asyl. Der Leiter dieser Gruppe
war der Cleverste von allen. Als das Gedränge an der Eingangssterling immer größer wurde, arbeitete er sich laut
um Hilfe rufend und ein Papier schwenkend nach vorn. Beim WO bat er in bewegten Worten, die keiner richtig
verstand, doch vorgezogen zu werden, er hätte ein paar bedauernswerte Menschenkinder bei sich, die für ihr Leben
gern nur einmal auf ein deutsches Schiff wollten. Man sei extra unter vielen Mühen und Kosten von La Plata angereist,
und dann klang es wie „persönliche Einladung durch den Kommandeur" und wie „einziger Lichtblick im
entbehrungsreichen Leben". Das Papier, das der eifrige Anwalt seiner Schützlinge immer noch schwenkte,
war übrigens eine alte Zeitung. Was sollte man tun, wenn derartig an Mitleid und Menschenfreundlichkeit
appelliert wird? Die Stelling frei und Platz gemacht; fünf kräftige Seeleute schafften das trotz Fluchen und Schimpfen
auf der anderen Seite. Die „paar bedauernswerten Menschenkinder" saßen in sage und schreibe 35 Rollstühlen und
viele humpelten noch auf Krücken hinterher. Die Zeit, die es dauerte, bis sie achtern auf der Schanz standen, kostete
uns mindestens 500 „Normalbesucher". Jedoch will ich das gern verschmerzen, denn mir war es dadurch vergönnt, das
größte Wunder meines Lebens zu schauen. War es die Ausstrahlungskraft unseres Schiffes, die nett ausschauenden
Jungs in ihrem Paradezeug oder die so jäh und unerwartet erfüllte Hoffnung „Nur einmal im Leben ein deutsches
Schiff zu betreten" - kaum an Deck, nahmen einige der soeben von kräftigen Seemannsfäusten behutsam auf
die Schanz gehobenen Rollstuhlinsassen ihr Bett und wandelten. Sie mischten sich flugs in den Besucherstrom und
waren verschwunden. Ich rieb mir die Augen, aber die leeren Rollstühle waren und blieben Realität. Jetzt war
Gefahr im Verzuge, denn wenn einer dieser Wundergeheilten plötzlich einen Rückfall erleiden sollte, was
durchaus im Bereich des Möglichen war, denn dies hier ist trotz allem kein heiliger Ort, dann musste das bei
dem Gedränge in den Gängen zur Katastrophe führen. Ich arbeitete mich zu meiner Kammer durch, um von
hier alle möglichen Stellen zu wahrschauen. Das war kein einfaches Unterfangen, denn im achteren Längsgang
hatte sich anscheinend eine größere Reisegesellschaft zum Picknick niedergelassen. Schließlich gelang
es mir doch; die fünf Nonnen in meiner Kammer bemerkte ich nicht sofort. Erst mitten im Telefonieren sah ich,
dass ich auch schon hier nicht mehr Herr im eigenen Hause
war.
Verstoß gegen Gebot Nr. 2.
Nun strebten die Ereignisse unaufhaltsam dem Höhepunkt zu. Als dann noch der
Abschnittsleiter Antrieb
schweißüberströmt kam und meldete: „Herr Kapitän, jetzt machen die das Schiff seeklar", hielt ich den
Zeitpunkt für gekommen, dem grausamen Spiel ein Ende zu machen. Auf der Pier hatten sich
inzwischen chaotische Zustände entwickelt. Das Gedränge war furchtbar geworden und man ging gerade
dazu über, Stammesfehden und Familienzwistigkeiten ganz offen auszutragen. Die Polizei stand mit
friedfertigem Gesicht dabei und schaute zu. Einer der Polizisten stieß fortwährend Pfiffe auf einer
Trillerpfeife aus, von denen aber nicht klar war, ob sie der Warnung oder Anfeuerung dienen sollten.
Viele schienen jedenfalls das Letztere darunter zu verstehen und hieben mit unverminderter
Heftigkeit aufeinander ein. Ich hatte nun die undankbare Aufgabe, den Zustrom der Menschen an
Bord zu unterbinden. In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Größe einer südamerikanischen
Familie zu erwähnen. Hatte ich an einer beliebigen Stelle den Absperrtampen ziehen lassen, heulten sofort
mindestens 100 Personen jeweils beleidigt auf, man hätte sie von ihren Angehörigen schnöde getrennt,
die sie nun zweifellos im Leben nie mehr wieder sehen würden. Ließ ich besagte 100 Personen noch durch,
waren einige dabei, die ein erneutes Geschrei unter den Hinterbliebenen verursachten. Eine Frau hielt mir
weinend ihr Kind entgegen, dass ich nun Ruchloserweise von seinem Ernährer getrennt und es somit zweifellos
dem Tode des Verschmachtens preisgegeben hätte. Das gleiche sei mit ihren zwei Töchtern der Fall, die nun
ohne Zweifel, des Vaters beraubt, vom Pfade der Tugend hinweg gerissen würden. Auch an Deck wurde der WO
von dem anderen - vorher noch feindlich gesinnten - Teil der Familie bestürmt und angefleht. Er hatte ein weiches
Herz, kam zu mir, und die getrennte Familie - sie war etwa 50 Mann stark - wurde zusammengefügt. Der WO
heimste dafür ganze Salven von herzhaften Küssen der beiden recht ansehnlichen und vom Pfade der Tugend
abzuweichen nicht Abgeneigten Töchter ein. Mich trafen dafür hasserfüllte Blicke, als nun endgültig die
Stelling geschlossen wurde. Wir schafften es tatsächlich bis 17.30 Uhr- eine halbe Stunde später als vorgesehen
- das Schiff frei von Besuchern
zu haben. Aber wie sah es aus!
Kurz und gut, unter Einsatz so ziemlich aller Feuerlöschrohre und Dank der 9 atü
Druck war das Schiff zwei
Stunden später wieder einigermaßen klar zum Empfang der
Ehrengäste des Kommandeurs zur Cocktailparty.
Die Wache aber wusste, was sie an diesem Tag geleistet hatte.